Kennedy Attentat

Am 29. Mai 2017 wäre John F. Kennedy 100 Jahre alt geworden. Der 35. Präsident der Vereinigten Staaten starb am 22. November 1963 durch Gewehrschüsse auf der Dealey Plaza in Dallas. Er wurde nur 46 Jahre alt. Kennedy hinterließ eine junge Frau und zwei kleine Kinder. Sein erschütternder Tod gilt als eines der folgenschwersten Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wirkt bis auf den heutigen Tag nach. In meiner True Crime Story »JFK: Dallas Dealey Plaza« beschreibe ich die furchtbaren Ereignisse, die dem Präsidenten zum tödlichen Verhängnis wurden.

Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus dem Buch »JFK: Dallas Dealey Plaza«:

Seit einer halben Stunde waren in der Fernsehredaktion von CBS in New York Meldungen eingegangen, dass auf die Wagenkolonne des Präsidenten geschossen worden war. Nachrichtensprecher im Studio war Walter Cronkite, einer der bekanntesten Reporter des Landes. Cronkite war kein Sensationsreporter, sondern ein besonnener Mann, der nicht alle Nachrichten, die hereinkamen, bedenkenlos weitergab. Der Präsident sei schwer verletzt in die Notaufnahme des Parkland Hospital von Dallas eingeliefert worden, berichtete Cronkite, und fügte vorsichtig hinzu, dass einige Leute in Dallas behaupteten, der Präsident sei tot. Aber das sei nicht offiziell, ergänzte er sogleich, man wisse nicht wirklich, wie es um den Präsidenten stehe.
Eine Kamera übertrug Bilder aus Dallas in das New Yorker Studio. Man sah den Dallas Trade Mart, wo der Präsident vor einer Vielzahl von Ehrengästen eine Rede hatte halten sollen. Die Tischreihen waren festlich eingedeckt, aber die meisten Gäste saßen nicht mehr auf ihren Plätzen. Die Menschen waren aufgestanden, gingen umher oder standen in kleinen Gruppen beisammen. Viele der Gäste wirkten unschlüssig oder verstört, aber obwohl klar schien, dass es ein Mittagessen nicht geben würde, ging niemand nach Haus.
Die Sache schien ernst. Auch ein Arzt vom Parkland Hospital habe angeblich erklärt, der Präsident sei tot, berichtete Cronkite; aber war das sicher? Der Reporter legte sich nicht fest. Bei einem Ereignis wie diesem brodelte die Gerüchteküche, und stets gab es Leute, die gleich das Schlimmste behaupteten; da galt es, vorsichtig zu sein.
Schon kam eine weitere Nachricht, die zu ernsten Befürchtungen Anlass gab. Pater Huber, einer der beiden Krankenhausgeistlichen, sei in das Zimmer des Präsidenten gerufen worden, um ihm die Sterbesakramente zu verabreichen, berichtete Cronkite, fügte aber sogleich wieder hinzu: Es ist nicht offiziell.
Es verging ungefähr eine halbe Minute, während der Cronkite für die neu an den Bildschirm gekommenen Fernsehzuschauer die Ereignisse aus Texas zusammenfasste, als ein Mitarbeiter der Redaktion an seinen Sprechertisch trat und ihm ein Blatt Papier überreichte.
Cronkite setzte seine schwarzumrandete Brille auf und warf einen schnellen Blick auf die Meldung. Sein Gesicht zeigte keine merkliche Reaktion, während er sie las. Er warf einen Blick in die Kamera, schaute wieder auf die Meldung, und in diesem kurzen Moment schien er zu begreifen, dass er nicht mehr der Reporter auf der Suche nach der neuesten Nachricht, sondern der Verkünder eines Ereignisses von weltgeschichtlicher Bedeutung geworden war.
»Aus Dallas, Texas«, las Walter Cronkite vom Blatt. »Die offizielle Bestätigung!« Er machte eine Pause und schluckte, bevor er weitersprach. »Der Präsident ist um 13 Uhr Ortszeit im Parkland Hospital von Dallas verstorben.« Er sah zur Seite, wo an der Wand eine Uhr hing, und fügte hinzu: »14 Uhr Ostküstenzeit. Vor etwas mehr als dreißig Minuten!« Er schaute wieder auf die Meldung, und man merkte, dass nur das Blatt in seiner Hand ihn davor bewahrte, die Fassung zu verlieren.
Es stand noch etwas darauf, mit dem er sich von seiner plötzlichen Betroffenheit ablenken konnte, und mit einer Stimme, die gegen das Zittern ankämpfte, fügte er hinzu: »Vizepräsident Johnson hat das Parkland Hospital verlassen und wird in Kürze der 36. Präsident der Vereinigten Staaten werden.« Er presste die Lippen zusammen und schaute zur Seite und nun sah man, dass der Reporter mit den Tränen kämpfte.
*
Ungefähr zwei Stunden, bevor Walter Cronkite die Nachricht von Präsident Kennedys Ermordung um den Erdball schickte, war die Präsidentenmaschine Air Force One auf dem Flughafen Dallas Love Field gelandet. Der Präsident kam aus Fort Worth, wo er die Nacht im historischen Hotel Texas verbracht und am Morgen vor der Handelskammer eine Rede gehalten hatte. Dallas war die letzte Station der Wahlkampfreise, die der Präsident durch die großen texanischen Städte unternahm.
Die Reise, die am Vortag in San Antonio und Houston begonnen hatte, war kein Spazierritt für den Präsidenten. Es gab keinen anderen Ort in den Vereinigten Staaten, an dem er weniger willkommen war als in Texas, dem zweitgrößten Staat der USA. Es hatte zahlreiche Morddrohungen gegen den Präsidenten gegeben, in denen er als Kommunist und Landesverräter beschimpft worden war.
Die Drohungen waren vor allem dem Politikwechsel geschuldet, den der Präsident in den letzten Monaten vollzogen hatte. Kennedy hatte sich hinsichtlich der Gleichberechtigung der Schwarzen weit vorgewagt, was ihm die Rassisten, von denen viele in Texas ihre Heimat hatten, sehr übel nahmen. Seit der Kuba-Krise vom Herbst 1962, als die Welt am Rande eines Atomkrieges stand, hatte Kennedy begonnen, eine Politik der Versöhnung und des Miteinanders mit Kuba und der UDSSR herbeizuführen. Er hatte seinem Geheimdienst den Befehl gegeben, die Pläne zur Ermordung Fidel Castros nicht weiterzuverfolgen. Der von Kennedy entwickelte Abzugsplan der USA aus Vietnam sah vor, sämtliche US-Amerikaner aus dem Land zurück zu ziehen.
Für die Rüstungsindustrie, die sich aufgrund der fehlenden Kriegsausgaben vor Millionenverlusten sah, war die Friedenspolitik, die Kennedy eingeleitet hatte, ein regelrechter Schock. Die reichen Kriegstreiber in Amerika sahen sich um ihre Zukunftschancen gebracht.
Dallas, eine Stadt, die als »Brutstätte rechtsgerichteten Konservatismus« galt, war der schwierigste Ort der Texas-Reise, hier gab es besonders viele Menschen, die den Präsidenten hassten.
Es hatte Bemühungen gegeben, den Präsidenten von der Reise nach Dallas abzuhalten. Einige Bürger der Stadt waren besorgt wegen des Ausmaßes an Hass, der Kennedy aus der Stadt entgegenschlug. Anfang Oktober hatte der liberale Senator Fullbright aus Arkansas versucht, den Präsidenten von einem Besuch in der Stadt abzubringen. Er selbst hatte Einladungen von Freunden, die ihn aus Dallas erreichten, stets ausgeschlagen.
Anwalt Byron Skelton, der Vorsitzende des Demokratischen Nationalkomitees für Texas, wurde von dunklen Vorahnungen geplagt. Am 4. November hatte er in einem Schreiben an den Justizminister seinen Sorgen Ausdruck verliehen und darum gebeten, Dallas von der Reise auszunehmen. Es gäbe Bürger in Dallas, denen er es zutraute, dass sie dem Präsidenten ernsthaften Schaden zufügen könnten. Zwei Tage später äußerte er seine Bedenken gegen den geplanten Besuch in einem Schreiben an einen Vertrauten von Vizepräsident Johnson, und um ganz sicher zu sein, alles versucht zu haben, flog er eine Woche später sogar nach Washington und bat dringlich darum, der Präsident möge um Dallas einen Bogen machen.
Skeltons Warnungen verpufften. Man nahm seine Besorgnisse ernst, hielt sie aber für übertrieben. Von offizieller Seite schien niemand durchgreifende Bedenken gegen die Reise zu haben.
Am 18. November traf das aus den Secret-Service-Männern Winston Lawson und Forrest Sorrels bestehende Vorauskommando  in der  Stadt ein. Das Augenmerk des Sicherheitsdienstes galt der Fahrtroute, die die Präsidentenkolonne durch die Innenstadt von Dallas nehmen sollte. Bei der Fahrt durch die Straßenschluchten fielen den Agenten die mehr als zwanzigtausend Fenster auf, die die Strecke begleiteten. Secret-Service-Mann Sorrels sagte sich, dass es unmöglich war, jedes der Fenster mit einem Sicherheitsbeamten zu besetzen. Als der Polizeiwagen, der die Route abfuhr, von der Main Street in die Houston Street einbog, erblickte Secret-Service-Mann Lawson ein Gebäude, dessen Anblick ihn nachdenklich stimmte. Auf seine Frage an den im Wagen mitfahrenden Polizeichef von Dallas, Jesse Curry, was es für ein Gebäude sei, erklärte dieser, dass es sich um das Texas School Book Despositery handele, ein Lagerhaus für Schulbücher. Die Auskunft schien Lawson zu beruhigen.
Der erste Tag der Reise durch Texas, die am 21. November begann, schien denen Recht zu geben, die glaubten, dass man alles richtig gemacht hatte. In San Antonio und Houston, den beiden größten texanischen Städten, wurde Kennedy von jubelnden Menschen begrüßt; kaum jemand schien dem Besucher feindlich gesonnen zu sein. In Houston fuhr Kennedy in einer Autoparade durch die Stadt und hielt im Stadion der Universität eine Ansprache, die von einer riesigen Menschenmenge begeistert aufgenommen wurde. Nichts deutete darauf hin, dass es Probleme geben könnte.
Der Triumph, den der Präsident auf den ersten Etappen seiner Texasreise erlebte, war nicht am wenigsten seiner attraktiven Ehefrau Jacqueline geschuldet, die ihn zum ersten Mal auf einer Wahlkampftour begleitete. Nicht zuletzt wegen ihrer Anwesenheit war die Stimmung der Bevölkerung sehr herzlich, als das Präsidentenpaar im offenen Wagen durch die texanischen Städte fuhr.
Auch Vizepräsident Johnson und seine Ehefrau Lady-Bird begleiteten den Präsidenten auf seiner Wahlkampftour. Mit von der Partie waren auch der Gouverneur von Texas, John Connally, und seine Ehefrau Nellie. Zum Tross des Präsidenten gehörten außer weiteren Politikern und Beratern auch 30 Secret-Service-Agenten.
Der freundliche Empfang, der dem Präsidentenpaar an den ersten Stationen der Reise bereitet wurde, hatte vorübergehend vergessen lassen, dass die Hetzkampagnen, die rechtsgerichtete Kreise losgetreten hatten, nicht beendet worden waren. Nachdem Kennedy am Morgen des 22. November vor der Handelskammer von Fort Worth seine Rede gehalten hatte, wurden ihm die Zeitungen zur Kenntnis gebracht, die über seinen bevorstehenden Besuch in Dallas berichteten, und von deren Inhalt sich der Präsident entsetzt zeigte. Die Dallas Morning News erschien mit einer Anzeige der John-Birch-Society, die den Präsidenten bösartig verleumdete. Unter der Überschrift »Willkommen in Dallas, Mr. Kennedy« wurde behauptet, der Präsident sei für die Verfolgung und Einkerkerung Tausender Kubaner verantwortlich und liefere Lebensmittel an die Nordvietnamesen, die den Tod amerikanischer Militärberater auf dem Gewissen hätten.
»Wie kann eine Zeitung so etwas drucken?«, äußerte der Präsident spontan.
Jackie Kennedy wurde beim Anblick der Zeitung regelrecht schlecht. Der Präsident meisterte die Situation mit einer scherzhaften Bemerkung. »Wenn jemand wirklich die Absicht hat, den Präsidenten zu erschießen, wäre das gar nicht so schwierig«, erklärte er gegenüber seiner Frau und seinem Berater Kenneth O‘Donnell. »Es braucht nur jemand mit Gewehr und Zielfernrohr ausgerüstet eines Tages in ein hohes Gebäude zu gelangen – gegen einen solchen Versuch kann niemand etwas tun.«
Nach diesem Gespräch machten sich der Präsident und seine Begleiter zum Abflug nach Dallas bereit.
Die Vorfreude auf den Besuch in Dallas hielt sich im Reisetross des Präsidenten angesichts der politischen Atmosphäre, die man in der Stadt erwartete, in Grenzen; doch bei den meisten Reisenden überwog ein Gefühl der Gelassenheit. Seitdem im Jahr 1901 dem Secret Service der Personenschutz des Präsidenten übertragen worden war, war noch kein Attentat auf einen Präsidenten geglückt.
Secret-Service-Agent Roy Kellerman gehörte zu denen, die der Gedanke an Dallas größeres Unbehagen verursachte als anderen Personen von der Begleitmannschaft. Kellerman würde bei der Autoparade in der Präsidentenlimousine neben dem Fahrer sitzen. Bei seinem Kollegen Lawson, der bereits am Flughafen Love Field wartete, erkundigte er sich am Morgen telefonisch, ob in Dallas alles gutgehen würde. Lawson beruhigte ihn. In der Stadt stünde alles zum Besten.
Auch Lady Bird Johnson, die Ehefrau des Vizepräsidenten, wurde von der Aussicht, an diesem Tag nach Dallas gehen zu müssen, bedrückt. Wie viele andere Frauen, die an diesem Tag gemeinsam mit der Präsidentengattin an der Parade teilnehmen wollten, wusste sie nicht, was sie anziehen sollte. Als sie sich ankleidete, merkte sie, dass ihr die Hände zitterten.
Um 11.20 Uhr bestieg der Präsidententross am Flughafen von Fort Worth die Air Force One zum Weiterflug nach Dallas. Man war etwas in Verzug, aber das Flugzeug würde für die 50 Kilometer lange Strecke bis in die drittgrößte texanische Stadt nicht länger als eine Viertelstunde brauchen. Unter Einrechnung der Fahrten zwischen Flughafen und Stadt wäre man nicht langsamer gewesen, hätte man die Strecke im Wagen zurückgelegt. Aber Landungen und Empfänge an Flughäfen machten sich gut, sodass Politiker ungern darauf verzichteten.
Als man im Anflug auf Dallas war, konnte Colonel Jim Swindal, der Pilot der Air Force One, von seinem Cockpit aus erkennen, dass man strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatte. Auf jedem Dach im östlichen Teil des Flughafens waren bewaffnete Polizisten zu sehen. Swindal hatte das Gefühl, wie in den zuvor besuchten texanischen Städten eine begeisterte Menschenmenge vor sich zu haben. Wer Dallas besser kannte, hätte ihm sagen können, dass dieser Eindruck eine Täuschung war.
Um 11.38 Uhr setzte die Präsidentenmaschine auf dem Rollfeld des Flughafens Dallas Love Field auf.
Fast 500 jubelnde Menschen hatten sich eingefunden, um den Präsidenten und seine Frau zu begrüßen. Als der Präsident aus der Maschine geklettert und zusammen mit seiner Gattin die Gangway heruntergestiegen war, um von dem aus zwölf Personen bestehenden Begrüßungskomitee in Empfang genommen zu werden, erhielt er von der anderen Seite der Kettenabsperrung viele Hochrufe. Obwohl auch Gegner von Kennedy erschienen waren, die Plakate mit Kennedys Konterfei und der Aufschrift »Wanted – Gesucht wegen Verrats« hochhielten, war nichts zu erkennen, was zu ernstlichen Besorgnissen Anlass gab.
Das Wetter war herrlich, ein warmer sonniger Herbsttag mit Temperaturen um die zwanzig Grad, und Jackie Kennedy, die ein rosafarbenes Wollkostüm trug, hatte das Gefühl, zu warm angezogen zu sein. Für einen Kleiderwechsel blieb allerdings keine Zeit, da man sich unmittelbar nach dem Empfang am Flughafen zu der Wagenkolonne begeben musste, die schon am Rollfeld bereit gestellt war. Das festliche Mittagessen mit zahlreichen geladenen Ehrengästen und einer Rede des Präsidenten, das im Anschluss an die Fahrt durch die Innenstadt von Dallas stattfinden sollte, war für halb eins angesetzt.
Die ganze Stadt war auf den Beinen. Rund 250.000 Menschen hatten sich in den Straßen von Dallas versammelt, durch die der Konvoi fahren sollte und standen in mehreren Reihen dicht gedrängt. Egal, ob sie Anhänger oder Gegner von John F. Kennedy waren, sie alle wollten den Besucher und seine Ehefrau sehen. Das Präsidentenpaar war eine Attraktion, die sich niemand entgehen lassen mochte.
Pater Oscar Huber von der Holy-Trinity-Church, ein sanfter, bescheidener Geistlicher von siebzig Jahren, war an diesem Morgen um 05.00 Uhr aufgestanden und hatte sich nach der Morgenandacht der Gemeindearbeit zugewandt. Ihm war bewusst, dass dies ein besonderer Tag war, weil die Autoparade des ersten katholischen Präsidenten nur ein paar Häuserblocks von seiner Kirche entfernt entlang führen würde. Anders als seine Mitbrüder, die sich den Empfang des Präsidenten lieber im Fernsehen anschauen wollten, hatte er beschlossen, sich zu der nahe gelegenen Reagan Street zu begeben, um den Präsidenten mit eigenen Augen zu sehen.
Joe Dealey, der Sohn des Herausgebers der Dallas Morning News telefonierte mit seinem Vater. Er war erst am Vorabend von einer Reise zurückgekommen und hatte am Morgen beim Aufschlagen der Zeitung die bösartige Anzeige gegen Kennedy erblickt, die sein Vater in seiner Abwesenheit genehmigt hatte. Joe Dealey war empört und machte seinem Vater Vorwürfe; so behandele man keinen Gast. Der alte Ted Dealey widersprach, die Anzeige entspräche den Ansichten ihres Blattes. Joe Dealey legte verärgert auf. Es war ohnehin zu spät, die Anzeige war in der Welt.
Zwei Freundinnen aus Dallas, Mary Ann Moorman, eine Hausfrau, und Jean Hill, eine Lehrerin, waren an diesem Vormittag mit einem Ford Thunderbird zur Dealey Plaza im Zentrum von Dallas gefahren. Die Dealey Plaza war ein weitläufiger, am Westrand der Innenstadt gelegener Platz, den die Wagenkolonne passieren sollte. Die Frauen parkten ihr Auto nicht weit entfernt in der Main Street. Da noch Zeit bis zur Ankunft der Parade war, machten die Freundinnen ein paar Fotos, wobei sie sich mehrmals gegenseitig knipsten. Nach dem gemeinsamen Foto-Shooting gingen die Freundinnen zur Elm Street, um einen Platz zu suchen, von wo aus sie einen guten Blick auf den Präsidenten hätten. Sie entschieden sich für eine Stelle in der Nähe des Bürgersteigs auf der östlichen Seite der Straße. Genau gegenüber lag ein Grashügel, der die Elm Street überblickte und den oberhalb ein niedriger Bretterzaun begrenzte. Dahinter drängten sich ein paar kleine Bäume bis an den Zaun, und hinter den Bäumen befanden sich ein großer Parkplatz und der Güterbahnhof.
An derselben Stelle der Elm Street, an der Mary Ann Moorman und Jean Hill einen guten Standplatz gefunden hatten, war früher am Vormittag Julia Ann Mercer, Angestellte einer Autofirma, auf der Elm Street an dem Grashügel vorbeigefahren. Der Verkehr staute sich und sie musste neben einem Kleinlaster halten, in dem zwei Männer saßen. Einer von ihnen, ein jüngerer Mann, stieg aus dem Wagen und ging mit einer Gewehrtasche den Hügel hinauf.
»Der Secret Service ist nicht sehr geheim«, dachte Mrs. Mercer bei sich.
Abraham Zapruder, ein Textilunternehmer, schaute sich um und entdeckte auf einem Betonsockel neben dem Grashügel einen für seine Zwecke idealen Standort. Zapruder besaß eine hochwertige und leistungsstarke Filmkamera vom Typ PD-Bell-&-Howell-Zoomatic, bestückt mit einem Kodak Kodachrome Safety Film. Für seine Filmaufnahmen, die er vom Präsidenten machen wollte, gab es keinen besseren Standpunkt als das erhöhte Betonpodest am Grashügel, das ihm ein nahezu freies Blickfeld auf die Dealey Plaza bot. Wenn Zapruder das Objektiv seiner hochmodernen Kamera auf die Straße richtete, auf der die Wagenkolonne vorüberfahren würde, konnte er Mary Ann Moorman und ihre Freundin Jean Hill sehen, die sich mit ihren Fotoapparaten bewaffnet hatten.
Lee Bowers, der Weichensteller des Rangierbahnhofs der Union Terminal Company, saß oben in seinem Glasturm, von wo aus er einen ausgezeichneten Blick auf den Grashügel und den Parkplatz dahinter hatte. Er beobachtete zwei Männer, die hinter dem Lattenzaum der Grasanhöhe Stellung bezogen hatten und dort offenbar auf die Ankunft der Wagenkolonne des Präsidenten warteten. Vor den Blicken der Zuschauer, die sich an der Dealey Plaza versammelten, blieben die Männer an diesem Ort verborgen. Beide Männer waren nicht wie Bahn- oder Polizeibeamte gekleidet. Hinter dem Hügel sah Bowers einen Mann auf dem Rangierbahnhof in seinem Wagen herumfahren. Der Mann schien in ein Mikrofon zu sprechen, das er bei sich trug. Es waren die einzigen Fremden auf dem Bahngelände, die Bowers sah, die anderen waren Arbeiter, die er kannte.
Bowers registrierte dies alles, schöpfte aber keinen Verdacht.
*
Am Flughafen Love Field war die Begrüßungszeremonie für die Gäste zu Ende gegangen, und der Präsident und seine Begleiter stiegen in die am Rande des Rollfelds bereitstehenden Wagen. Es war 11.50 Uhr, als sich die Wagenkolonne aus Love Field in Richtung Dallas Downtown in Bewegung setzte. Die Route, die die Kolonne nehmen wollte, sollte über eine Strecke von rund 16 Kilometern durch die Innenstadt von Dallas zum Trade Mart Handelszentrum führen.
Der Wagenkonvoi des Präsidenten bestand aus 15 Fahrzeugen. Hinter den Motorrädern an der Spitze des Konvois fuhr das weiße Führungsfahrzeug der Polizei. In dem Wagen saßen Jesse Curry, der Polizeichef von Dallas, und Bill Decker, der Sheriff der Stadt, zusammen mit den Secret-Service-Männern Sorrels und Lawson.
Die Präsidentenlimousine war das zweite Fahrzeug im Konvoi, ein 1961er Lincoln Continental X 110, der eigens aus Washington eingeflogen worden war. Es folgten das schwer gepanzerte Geleitfahrzeug mit den Secret-Service-Männern, von den Agenten Queen Mary genannt, in dem acht Insassen Platz fanden, und mit vier Agenten, die auf den Trittbrettern standen. Der vierte Wagen war das graue Cabriolet von Vizepräsident Johnson, in dem dieser zusammen mit Ehefrau Lady Bird und dem texanischen Politiker Yarborough saß, der fünfte Wagen war das Pressefahrzeug und dahinter kamen weitere Wagen mit Secret-Service-Agenten, Politikern und Vertretern der Presse.
Auf Anordnung des Präsidenten fuhr man mit offenem Verdeck.
In der Limousine des Präsidenten saßen sechs Personen. Präsident Kennedy saß in der dritten, hintersten Reihe rechts, neben ihm Gattin Jackie, zwischen den beiden lag ein Strauß voller Rosen. Vor Kennedy saß der Gouverneur von Texas John Connally, auf der anderen Seite seine Frau Nellie. Ganz vorne auf dem Beifahrersitz war Roy Kellerman vom Secret Service zugestiegen, und hinter dem Steuer saß William Greer, ein 54 Jahre alter, ehemaliger Polizist.
Bald nachdem der Wagenkonvoi das Flughafengelände von Love Field verlassen hatte, fuhr er durch ein Industriegebiet und einen dünnbesiedelten Stadtteil am Rande von Dallas, wo sich nur wenige Menschen eingefunden hatten, um die Parade zu betrachten. Außer Fabrikgebäuden gab es für die Fahrzeuginsassen in den Straßen, durch die die Kolonne rollte, nicht viel zu sehen. Die Stadt machte nicht den gefährlichen Eindruck, den man erwartet hatte, und in der Wagenkolonne machte sich gute Laune breit. Zweimal ließ Präsident Kennedy halten; einmal, um eine Gruppe Kinder, dann um eine Gruppe katholischer Nonnen, zu begrüßen.
In der Reagan Street hörte Pater Huber von der Holy-Trinity-Church das Brummen der näher kommenden Motorräder des Wagenkonvois. Er sprang in die Höhe, um hinter der vor ihm stehenden Gruppe von Jugendlichen das Gesicht des Präsidenten sehen zu können. Der Präsident schaute gerade zur anderen Seite. Der blaue Lincoln war beinahe an Huber vorübergerollt, da drehte Kennedy den Kopf plötzlich herum und lächelte dem Pater zu.
»Hurrah, hurrah!«, rief dieser begeistert aus.
Die Fahrt des Präsidentenkonvois ging die Cedar Springs Road hinunter und der gemütliche Charakter der Parade änderte sich. An der Live Oak Street waren die Bürgersteige schwarz vor Menschen. Die Zuschauer standen in bis zu acht Reihen tief dicht gedrängt und die Wagenkolonne kam nur langsam voran. Secret-Service-Mann Rufus Youngblood, der im Cabriolet mit Vizepräsident Johnson neben dem Fahrer Hurchel Jacks saß, verließ mehrere Male den Wagen, um Zuschauer am Straßenrand zurückzuhalten und ein Weiterkommen der Fahrzeuge zu ermöglichen.
Jesse Curry am Steuer des weißen Führungswagens bog rechts ab und William Greer folgte ihm am Steuer des Lincolns in die Main Street, die Paradestraße von Dallas, die von hohen Häusern gesäumt und dem New Yorker Broadway nicht unähnlich war. Die Luft zwischen den Wolkenkratzern war fast tropisch heiß, bunte Papierschlangen, die aus den Fenstern geworfen wurden, wirbelten durch die Luft. Alles war voller Jubel und tosendem Lärm.
Der Jubel der Menschen schwoll an, je tiefer sich die Kolonne in die Straßenschluchten von Downtown hinein bewegte. Fahrer William Greer musste die Geschwindigkeit des Lincoln immer weiter verringern, von dreißig auf zwanzig, auf zehn Stundenkilometer. Am Ende war ein Vorwärtskommen kaum noch möglich. Sobald Jackie Kennedy mit ihrer weiß behandschuhten Hand winkte, schrien die Leute ihren Namen.
Secret-Service-Mann Clinton Hill, ihr persönlicher Leibwächter, stand am Wagen hinter der Limousine auf dem linken Trittbrett oder ging neben der Präsidentenlimousine her. Er beobachtete die Menschen und die Hochhäuser, während er mehrfach auf das Trittbrett und wieder zurück auf die Straße sprang.
»Sie kommen, der Präsident kommt!« Immer wieder hörte Secret Service Mann Forrest Sorrels im Führungsfahrzeug diese Rufe. Die Menschen, die sich am Straßenrand drängten, wirkten ehrlich begeistert, doch Sorrels sah meistens nach oben, zu den Leuten, die an den offenen Fenstern standen und nicht jubelten, dafür aber mit Ablehnung auf die begeisterten Menschen am Straßenrand herunterzusahen. Auch Senator Yarborough im Wagen des Vizepräsidenten gefielen die verschlossenen Mienen vieler Leute nicht, die er in den oberen Stockwerken erblickte.
Sam Kinney, der Fahrer des Geleitwagens mit den Secret-Service-Beamten, behielt die Schultern des Präsidenten im Auge, während Clinton Hill ihn die meiste Zeit auf dem Trittbrett des Wagens flankierte. Hills Rolle als Leibwächter von Jackie Kennedy brachte es mit sich, dass er auch dem Präsidenten zumeist recht nahe war.
Präsident Kennedy wurde nicht müde, sich der begeisterten Menge zuzuwenden, fast pausenlos winkte er den zahlreichen Zuschauern am Straßenrand zurück. »Danke, danke, vielen Dank«, hörte Nellie Connally ihn zu den Leuten sagen, obwohl diese ihn in dem Lärm gar nicht verstehen konnten.
Kennedy schien ehrlich erfreut, aber auch erleichtert darüber, dass er entgegen aller Befürchtungen bei den Menschen in Dallas eine so großzügige Aufnahme fand. Die Wahlkampfveranstaltung in Dallas schien ein gewaltiger Erfolg zu werden.
*
Nach rund vierzigminütiger Fahrt lag das Geschäftsviertel von Downtown hinter der Wagenkolonne, die nun in westlicher Richtung auf die Dealey Plaza zufuhr, ein offenes Parkgelände, das die Westgrenze der Innenstadt von Dallas bildete und die Form eines Dreiecks besaß.
Die Basis dieses Dreiecks bildete die Houston Street, die den Gebäudekomplex der Dealey Plaza im Westen begrenzte und von der aus drei parallel verlaufende Straßen, die Commerce, die Main und die Elm Street den Platz in drei Teile zerschnitten, bevor sie in der Spitze des Dreiecks aufeinandertrafen und nebeneinander eine mehrgleisige Eisenbahnbrücke unterquerten, hinter der die Auffahrt zum Stemmons Freeway lag.
Die Main Street, auf der sich die Kolonne auf den Platz zubewegte, war die mittlere der drei parallel verlaufenden Straßen. Zum Stemmons Freeway führte aber nur die am weitesten nördlich gelegene Elm Street, zu deren westlichen Ausläufer man über die Houston Street und eine 120-Grad Kurve an deren Ende gelangte. Eine kleine Betonerhöhung zwischen der Main und der Elm Street verhinderte das unmittelbare Abbiegen von der Main zu der Auffahrt, über die man auf den Freeway gelangte. Ursprünglich war vorgesehen, die Route der Parade nicht über die Houston Street zu führen, sondern auf der Main Street zu bleiben. Die eigentliche Autoparade wäre nach dem Unterqueren der Eisenbahnunterführung vorbei gewesen, sodass es nur noch darum gehen konnte, zügig zum Trade Mart zu gelangen, und sei es auf einem Umweg, der den Sicherheitsvorschriften entsprach.
Doch einige Tage vor dem Besuch des Präsidenten wurde die Entscheidung getroffen, die Kolonne den Bogen über die Houston und die Elm fahren zu lassen. Die Vorschriften des Secret Service untersagten Kurven von mehr als 90 Grad, und doch war die unzulässige Streckenführung festgesetzt worden, niemand wusste später, warum.
Senator Yarborough im Wagen des Vizepräsidenten fühlte sich besser, als er in der Ferne den Rasen der Dealey Plaza erblickte, sodass man die Straßenschluchten mit den Menschen an den Fenstern bald hinter sich haben würde. Er wusste nicht, dass die Dealey Plaza der gefährlichste Ort der Route war, weil die Straßenführung die Wagenkolonne an diesem Platz zu äußerster Langsamkeit zwang. Da er geglaubt hatte, dass der Freeway direkt von der Main Street zu erreichen sei, war er überrascht, als er bemerkte, dass das weiße Führungsfahrzeug von Jesse Curry in Höhe des Gerichtsgebäudes nach rechts in die Houston Street einbog. Das war doch die falsche Richtung, ging es ihm sogleich durch den Kopf, und dabei beschlich ihn das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.
Die Zuschauer an der Dealey Plaza begannen zu applaudieren, als sie die blaue Präsidentenlimousine erblickten. Clinton Hill, der Leibwächter von Jackie Kennedy, sprang wieder auf das seitliche Trittbrett des Wagens hinter der Präsidentenlimousine auf. Es kurz vor halb eins, als der Lincoln den Platz erreichte.
Verglichen mit den Straßen von Downtown war es auf der Dealey Plaza fast still, und der Präsident mochte sich gewundert haben, dass an diesem Platz die Reihen dünner geworden waren, nachdem die hinter ihm liegenden Straßen schwarz vor Menschen gewesen waren. Eigentlich hätte der Ort mehr Zuschauer anlocken müssen, aber nicht anders als dem Senator Yarborough war es vielen Bürgern von Dallas nicht bekannt geworden, dass der Weg des Konvois über die Houston und die Elm Street führen würde, nachdem erst drei Tage zuvor in der Zeitung über dieses ergänzende Detail der Fahrtroute berichtet worden war.
William Greer drehte das Steuerrad der großen Limousine nach rechts, um dem Wagen von Jesse Curry in die Houston Street hinein zu folgen. Die östliche Grenze der Straße bildeten mehrgeschossige Gebäudekomplexe, während sich auf der Nordseite des Platzes das Texas School Book Depository erhob, auf das die Houston Street unmittelbar zuführte. Das Schulbuchgebäude stand direkt an der scharfen 120-Grad-Kurve, die die Kolonne in die Elm Street hinein nehmen musste. Oben auf dem Gebäude gab es eine große Lichtreklame für »Hertz Rent-a-car«, die den Menschen unten auf der Dealey Plaza Zeit und Temperatur anzeigte.
Amos Lee Euins, ein junger Schwarzer, stand an der Ecke Houston und Elm und schaute zum Fenster des Texas School Book Depository hinauf. Oben erblickte er einen Mann mit einem Gewehr. Schon vor ungefähr zehn Minuten hatte auch Arnold Rowland, der an der Houston Street auf die Kolonne wartete, zu dem Fenster im sechsten Stock des Schulbuchdepots hinaufgesehen. Rowland hatte nicht nur einen, sondern zwei Männer im sechsten Stockwerk gesehen, einer von ihnen war, wie er später meinte, ein Schwarzer mit dünnem Haar. Er hatte die beiden Männer an verschiedenen Fenstern erblickt, auf der Südwestseite einen jüngeren weißen Mann, und den Schwarzen auf der Südostseite. Rowland hielt die beiden Männer für Leute vom Sicherheitsdienst, die die Fahrtstrecke der Kolonne überwachten.
Auch Carolyn Walther, die im Dal Tex-Building arbeitete, das sich auf der Houston Street gegenüber dem Schulbuch-Depot befand, hatte zwei Männer hinter den Fenstern im sechsten Stockwerk erkannt. Sie war gegen 12.20 Uhr zusammen mit ihrer Arbeitskollegin Pearl Springer auf die Straße hinuntergegangen, um sich die Autoparade anzusehen. Als sie in die Richtung des Schulbuchlagers schaute, erblickte sie an einem Fenster auf der Südseite des Gebäudes einen Mann mit blondem oder hellbraunem Haar und in den Händen des Mannes ein Gewehr, dessen Lauf nach unten gerichtet war. Neben ihm stand ein anderer Mann in braunem Anzug, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte.
»Sie kommen«, riefen die Menschen neben ihr und Carolyn Walther ließ das Schulbuchgebäude aus den Augen und wandte den Blick der sich nähernden Parade zu.
Es gab weitere Personen, die oben am Fenster einen oder mehrere Männer sahen, aber niemand schien durch den Anblick der Gestalten, die man für Sicherheitsbeamte hielt, ernstlich beunruhigt zu sein.
Ronald Fischer und Robert Edwards standen an der Ecke Houston und Elm, als sie einen Mann erblickten, der aus einem Fenster des Texas School Book Depository nach draußen sah. Der Mann schien sich unwohl zu fühlen und machte nicht den Eindruck, als ob er auf die Autoparade wartete. Er schaute nicht in die Richtung, aus der sich die Motorräder und das weiße Führungsfahrzeug näherten, sondern sah hinüber zu der dreifachen Eisenbahnunterführung am Ende der Elm. Er bewegte sich nicht, sondern stand wie versteinert da, und so, als würde er jemanden beobachten, der sich auf dem Eisenbahngelände befand.
Es war erst kurze Zeit her, dass Fischer und Edwards durch einen kleinen Vorfall auf der Elm abgelenkt worden waren. Ein Ambulanzwagen war vorgefahren, um einen jungen Mann aufzunehmen, der in der Nähe des Schulbuchlagers einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Der Vorgang hatte die Aufmerksamkeit vieler der Anwesenden auf sich gezogen. Doch dann, gerade noch rechtzeitig und als die Autokolonne des Präsidenten schon in Sichtweite kam, hatte der Krankenwagen die Elm Street verlassen und war durch die Eisenbahnunterführung zum Stemmons Freeway verschwunden.
Der Krankenwagen war längst nicht mehr da, doch der seltsame Mann am Fenster des Depots starrte noch immer in die Richtung, in der sich der Vorfall ereignet hatte. Es musste etwas anderes sein, das die Aufmerksamkeit des Mannes am Fenster gefangen hielt.
*
Der 24 Jahre alte Lee Harvey Oswald, der Mann, den man später als mutmaßlichen Kennedy-Attentäter festnehmen würde, hatte an diesem Morgen um 08.00 Uhr seinen Dienst im Schulbuchgebäude an der Dealey Plaza begonnen. Sein Arbeitstag verlief unauffällig. Oswald ging wie jeden anderen Tag seiner Arbeit nach. Um 11.50 Uhr begann die Mittagspause im Schulbuchlager. Auch die meisten Mitarbeiter des Buchdepots wollten draußen vor dem Gebäude der Vorüberfahrt des Wagenkonvois zusehen. Oswald selbst schien indes kein sonderliches Interesse an der Autoparade zu haben.
Der Vorarbeiter Bill Shelley sah Lee Harvey Oswald nach Beginn der Mittagspause im ersten Stock des Buchdepots an einem Telefon. Um 12.00 Uhr begegnete Oswald dort seinem Kollegen Eddie Piper und sprach mit ihm. Zwischen 12.15 Uhr und 12.20 Uhr saß Oswald in der Kantine auf einem Hocker neben dem Cola-Automaten im zweiten Stock beim Lunch. Dort sah ihn die Sekretärin Carolyn Arnold. Oswald war wie üblich alleine, sollte sie später bekunden, sie sprach nicht mit ihm, hatte aber keine Zweifel, ihn deutlich erkannt zu haben.
Während Oswald sich in der Kantine aufhielt, nahm im sechsten Stock der Lagerarbeiter Bonny Ray Williams sein Mittagessen ein. Das war gegen 12.00 Uhr. Williams war allein, bis er gegen 12.15 Uhr wieder nach unten ging, weil es so still im Gebäude geworden war. Niemand begegnete ihm auf dem Weg nach unten.
Die Vorbeifahrt des Präsidentenkonvois auf der Dealey Plaza war für 12.25 Uhr angekündigt worden. Die Veranstaltung im Trade Mart sollte um 12.30 Uhr beginnen.
Für einen Attentäter, der plante, dem Präsidenten mit dem Gewehr am Fenster im sechsten Stock mit einem Gewehr aufzulauern, war es um 12.15 Uhr höchste Zeit, sich am Fenster bereit zu machen. Kein Mordschütze konnte wissen, dass die Air Force One am Morgen in Fort Worth mit Verspätung abgeflogen war. Wenn Lee Harvey Oswald auf den Präsidenten schießen wollte, so hätte er nun, da der Zeiger der Uhr sich zwischen 12.15 Uhr und 12.20 Uhr bewegte, längst am Fenster im sechsten Stock auf der Lauer liegen müssen, um sein Opfer nicht zu verpassen. Doch um 12.20 Uhr war Oswald nicht oben im sechsten Stock, obwohl es nur noch weniger als fünf Minuten Zeit war, bevor nach dem offiziellen Protokoll der Fahrtroute die Wagenkolonne des Präsidenten das Schulbuch-Depot passieren würde.
Besaß der Mann, den man zwei Stunden später als angeblichen Attentäter verhaften sollte, wirklich solch eiserne Nerven, dass er noch nach 12.20 Uhr nach oben eilte, im allerletzten Moment also, um den Präsidenten um 12.25 Uhr noch mit einer Mörderkugel zu erwischen? Oder tat er das nicht, sondern blieb im zweiten Stock in der Kantine sitzen, wo er sich soeben eine Cola aus dem Automaten gezogen hatte? Stand er Schmiere, während jemand anderes sich im sechsten Stock bereit gemacht hatte, um den Präsidenten zu erschießen?
Um 12.20 Uhr war es für Oswald praktisch schon zu spät, um nach oben ins sechste Stockwerk zu eilen und als einzelner Schütze eine Mordposition am Fenster einzunehmen. Wenn die Zeugen Recht hatten, die draußen auf der Plaza standen und zu dem Schulbuchgebäude hinaufsahen, war zu diesem Zeitpunkt nämlich schon jemand oben am Fenster.
Zu derselben Zeit, als Carolyn Arnold zufolge Oswald sich noch in der Kantine im zweiten Stock aufhielt, hatten mehrere Zeugen bereits unabhängig voneinander ein oder zwei mit Gewehren bewaffnete Gestalten am Fenster im sechsten Stock des Schulbuchlagers erblickt.
Was Oswald zwischen 12.20 Uhr und 12.30 Uhr tat, ließ sich durch keine Zeugenaussage klären. Niemand sah, ob er während der Vorüberfahrt des Konvois im zweiten Stock des Schulbuchlagers verblieb, um seine Cola trinken; niemand auch, ob er tollkühnerweise noch im letzten Moment nach oben eilte, um rechtzeitig eine Schussposition am Fenster einzunehmen.
Im Schulbuchlager war es ruhig geworden, als der Zeitpunkt der Vorüberfahrt der Autoparade nahte. Von drinnen betrachtet wirkte das Gebäude nahezu leer. Aber es war nicht leer, auch nicht im sechsten Stock. Irgendjemand hatte sich bereit gemacht. Jemand war nach oben gegangen war, gleich nachdem der Arbeiter Williams das sechste Stockwerk verlassen hatte; jemand, der nun im sechsten Stock mit einem schussbereiten Gewehr am Fenster stand.
*
Die Motorräder an der Spitze der Wagenkolonne des Präsidenten näherten sich der Ecke Houston und Elm. Die Menschen, die an der Houston Street standen, applaudierten dem winkenden Präsidenten, während der blaue Lincoln langsam an ihnen vorüberglitt.
Die Motorradpolizisten drosselten ihre Geschwindigkeit, um die scharfe Kurve zur Elm Street zu nehmen. Im Cabriolet des Vizepräsidenten sah Agent Rufus Youngblood, dass der großen Zeitanzeiger auf dem Texas School Book Depository auf 12.30 Uhr sprang. Präsidentenberater David Powers im Geleitfahrzeug davor wandte sich an seinen Kollegen Kenneth O’Donnell und merkte an, dass 12.30 Uhr die Zeit sei, zu der man nach der Planung im Trade Mart Handelszentrum hatte ankommen wollen.
Jesse Curry am Steuer des Führungsfahrzeugs bog nach links in die scharfe Kurve zur Elm Street ein. Für ihn war es nicht schwer, die Kurve zu nehmen, er kannte die Strecke und war sie schon oft gefahren. William Greer, der ihm mit einigem Abstand am Steuer des Lincoln folgte, fuhr sie zum ersten Mal und musste stark bremsen, als er das Ende der Houston Street erreichte.
Die Gestalt am Fenster im sechsten Stock des Schulbuchlagers war in den Schatten des Raums zurückgewichen. Es war ein idealer Standort, den der Schütze eingenommen hatte. Nicht nur wegen der scharfen Kurve, die den Konvoi zu einer langsamen Geschwindigkeit zwang, sondern auch, weil man vom Texas Book Depository Building sowohl in die Houston als auch in die Elm Street schießen konnte, man also zwei Chancen hatte, während es fast überall sonst entlang der Fahrtroute nur eine einzige, zeitlich kürzere Vorüberfahrt der Limousine gegeben hatte. Bis eben hatte der Mann mit dem Gewehr freie Sicht auf Kopf und Körper des Präsidenten in der offenen Limousine gehabt, sodass er aus dem Halbdunkel der Raumes heraus einen direkten Frontschuss auf sein Ziel hätte abgeben können; – doch dem verborgenen Schützen musste bewusst gewesen sein, dass er schnell hätte erkannt werden können, wenn er seinen Anschlag frontal unternahm. Hätte er geschossen, solange sich der Lincoln auf der Houston Street befand, hätte er den Konvoi vermutlich mit seinen Schüssen gestoppt. Es wäre dann sofort klar gewesen, woher die Schüsse gekommen waren, und der Schütze hätte es nicht leicht gehabt, zu entkommen. Wenn die Schüsse aber erst fielen, als das Präsidentenfahrzeug um die Kurve gebogen war und sich auf der Elm Street befand, war die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren, weniger gewiss. Entweder war es sein Instinkt, der den Schützen davon abgehalten hatte, den Abzug seines Gewehrs zu betätigen, während die Präsidentenlimousine auf ihn zugerollt kam, oder er hatte von vorneherein den Plan gehabt, erst in der Elm Street auf den Präsidenten zu schießen.
William Greer drehte das Steuer der großen Limousine nach links. Die Kurve war so scharf, dass er den Lincoln fast zum Stehen brachte. Sam Kinney am Steuer des Secret Service Wagens und Hurchel Jacks, dem Fahrer der Limousine mit Johnson und Yarborough, die beide gleich dahinter kamen, erging es mit ihren Fahrzeugen nicht anders. Alle drei Fahrer wunderten sich, dass die Autoparade des Präsidenten eine Wendung nehmen musste, die ihre Fahrzeuge fast zum Anhalten zwang.
Als William Greer das Ende der Kurve erreichte, kam in der Ferne die dunkle Unterführung zum Stemmons Freeway in Sicht. Mit langsamer Geschwindigkeit fuhr er weiter; vorbei an dem Schulbuchgebäude mit seinen offen stehenden Fenstern und dann vorüber an einer mächtigen Eiche, die am rechten Straßenrand mit ihren dichten Zweigen in den Himmel wuchs.
Greer lehnte sich zurück; das Schlimmste schien überstanden. Er wusste, dass hinter der Eisenbahnunterführung nur noch der Schnellweg kam, die Autoparade war hinter der Brücke vorüber, der Rest der Strecke zum Trade Mart würde nur noch Routine sein.
Auch Jackie Kennedy war froh, als sie die dunkle Eisenbahnunterführung erblickte. Es würde angenehm kühl in dem schattigen Tunnel sein, dachte sie bei sich.
Der Geleitwagen und der Wagen des Vizepräsidenten hatten hinter Greer die Kurve genommen und rollten hinter dem Lincoln auf der Elm Street auf die Eisenbahnunterführung zu. Senator Yarborough fühlte sich beruhigt, nachdem der Wagen wieder in der alten Richtung fuhr.
Im Führungswagen von Polizeichef Jesse Curry nahm der Secret Service Mann Lawson sein Funkgerät zur Hand und teilte seinem Kollegen am Handelszentrum mit, dass man in fünf Minuten ankommen werde.
Am Rande der grasbewachsenen Anhöhe an der Elm Street stand Charles Brend mit seinem fünfjährigen Sohn, als er die heranfahrende blaue Limousine sah.
»Vergiss nicht, dem Präsidenten zuzuwinken«, sagte Brend zu seinem Sohn.
Nellie Connally, die Gouverneursgattin, die noch ganz unter dem Eindruck der jubelnden Menschenmassen am Straßenrand stand, drehte sich in ihrem Sitz zum Präsidenten herum und sagte: »Mr. President, Sie können nicht sagen, dass Dallas Sie nicht liebt.«
Nach dem überwältigenden Empfang, der ihm in den hinter ihnen liegenden Straßen bereitet worden war, mochte der Präsident ähnlich empfinden wie sie, und außerdem war er ja der Präsident und ein höflicher Mann, und so antwortete er – und es waren die letzten frei gesprochenen Worte, die er in seinem Leben sagte: »Sie haben recht, das kann man wirklich nicht sagen.«
Charles Brend hielt seinen Sohn in die Höhe. Der kleine Brend hob zaghaft den Arm. Der Präsident lächelte und winkte zurück.
Plötzlich hörte man einen lauten, peitschenden Knall.
Vom Texas Book Depository Building stieg ein aufgescheuchter Schwarm Tauben in die Luft.
Weichenwärter Lee Bowers im Stellwerksturm der Union Terminal Company blickte zum Grashügel. Die beiden Männer hinter dem Zaun, die er schon vor geraumer Zeit beobachtet hatte, waren noch dort. Genau an der Stelle, wo sie standen, hatte sich etwas ereignet, das seinen Blick anzog, kaum dass er den Knall vernommen hatte. Was es war, konnte Bowers nicht erkennen, außer, dass es ungewöhnlich war; ein Lichtschein, soweit er sagen könnte, etwas, das in ihm das Gefühl erweckte, als spielte sich dort etwas Ungewöhnliches ab.